Der Expertenstandard des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) „Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen“ sagt, dass jeder Patient mit chronischen Schmerzen ein individuell angepasstes Schmerzmanagement erhält, das zur Schmerzlinderung, zum Erhalt oder Erreichung einer bestmöglichen Lebensqualität und Funktionsfähigkeit sowie zu einer stabilen und akzeptablen Schmerzsituation beiträgt und schmerzbedingten Krisen vorbeugt. Doch neuesten Studien zufolge zeigen 50 Prozent aller Pflegeheimbewohner Schmerzen. Dabei erhalten 20 Prozent keine ausreichende medikamentöse sowie nicht-medikamentöse Schmerztherapie.
Die Mehrzahl der Menschen mit Demenz zieht im Verlauf der Erkrankung in eine stationäre Pflegeeinrichtung. Fünf Jahre nach der Diagnose lebt etwa die Hälfte der Betroffenen in einem Heim, nach acht Jahren sind es circa 90 Prozent. Wie erkennt man Schmerzen bei Menschen mit Demenz und starken kognitiven Einschränkungen, wenn es einen Unterschied macht, aus welcher Kultur jemand kommt und ob man nach Schmerzen fragt oder ob es wo wehtut?
Die kognitiven Einschränkungen oder der Verlust der Fähigkeit, sich verbal verständlich zu machen, bedürfen bei Menschen mit Demenz sowie auch im hohen Alter häufig eines anderen Zugangs, um Schmerzen zu beurteilen. Zielgruppenspezifische Schmerzbeobachtungen und Schmerzeinschätzungen sollen hierbei auf lautsprachliche, mimische, verhaltensbedingte und physische Äußerungen der Betroffenen eingehen können.
Als Grundlage für eine differenzierte Entscheidungsfindung sollte das Team in jedem Fall eine effiziente Schmerzerfassung und ein darauf fußendes Schmerzmanagement leben. Denn mit einem guten Schmerzmanagement verringert sich die Zahl der Bewohner, die unruhig sind und herausforderndes Verhalten zeigen, erheblich.
Wie Menschen mit Demenz Schmerz erleben
Schmerzreize werden im Alter eher stumpf wahrgenommen, der Schmerzeintritt erfolgt langsamer. Die Schmerzschwelle ab der ein Reiz als schmerzvoll wahrgenommen wird und die Schmerztoleranz, sind je nach Demenzform unterschiedlich ausgeprägt. Ist die persönliche Schmerztoleranz überschritten, wird diese bei Menschen mit kognitiven Störungen weniger durch die körpereigene Hemmung unterdrückt, wodurch eine deutlichere Schmerzmimik im Vergleich gesunder gleichaltriger zu erkennen ist.
Demenziell erkrankte Bewohner verlieren irgendwann das erlernte Wissen darüber, was ein Schmerz ist. Sie können den Schmerz nicht ihrem Körper, einem Organ oder einer Krankheit zuordnen. Sie zeigen ausgeprägte Mimik und vegetative Symptome. Durch den kognitiven Bedeutungsverlust, was ein Schmerz ist, könnten Demenzkranke zum Beispiel auch andere unangenehme Empfindungen oder Gefühle für sich als Schmerzen interpretieren und entsprechend darauf reagieren. Es kann vorkommen, dass sie laut „Aua“ rufen, wenn sie Angst haben, sich einsam fühlen oder zum Beispiel durch eine zu schnelle Bewegung erschrecken. Die Laute und die gemeinten Inhalte verlieren ihre Verbindung.
Allgemein erleben alte Menschen den Schmerz oft als eine Herausforderung, als Zeichen von Schwäche oder als Strafe für eine vermeintliche Schuld und wollen keinem zur Last fallen. Dabei tun sie sich oft schwer damit, erstens Schmerz als etwas zu begreifen, über das man spricht, und ihn zweitens dann auch noch exakt zu beschreiben.
Das Wort Schmerz hat in vielen Sprachen somit unterschiedliche Bedeutungen und ist abhängig von der jeweiligen kulturellen wie religiösen Betrachtungsweise des Schmerzes. Das Phänomen Schmerz ist sprachlich nur schwer definierbar, da eine Vielzahl der Schmerzbegriffe zusätzlich Emotionen beinhalten. Schmerz ist somit nicht nur ein reiner Nervenimpuls, sondern ein komplexes und vielschichtiges Erlebnis. Es ist nicht nur der Schmerz, der das Leben bestimmt, sondern es ist auch das Leben, das die Intensität und die Bewertung des Schmerzes definiert.
Schmerzmodell Total-Pain Modell Demenz
Die englische Krankenschwester Cicely Saunders hat deshalb bereits in den 1960er Jahren das Konzept des völligen Schmerzes oder Leids definiert, das sogenannte Total Pain Konzept. Der „totale Schmerz“ setzt sich demnach aus vier Schmerzformen zusammen: körperlicher, psychischer, sozialer und spiritueller Schmerz.
Geeignete Instrumente, um Schmerzen bei Menschen mit Demenz zu erfassen
Der Mini-Mental-Status-Test (MMST) wurde entwickelt, um ein für den klinischen Alltag geeignetes Screening-Verfahren zu bieten, um kognitive Defizite festzustellen.
Erläuterung zur MMST-Auswertung:
- 30 bis 28 Punkte: keine Demenz
- 27 bis 25 Punkte: leichte kognitive Beeinträchtigung
- 24 bis 18 Punkte: leichte Demenz
- 17 bis 10 Punkte: mittelschwere Demenz
- Weniger als 9 Punkte: schwere Demenz
Je nach Grad der kognitiven Beeinträchtigung empfehlen sich unterschiedliche Instrumente für ein Schmerzassessment.
Mini-Mental-Test Auswertung | Hinweise | Empfehlung zum Assessment |
---|---|---|
30 bis 28 Punkte: keine Demenz | numerische Rating-Skala | |
27 bis 25 Punkte: leichte kognitive Beeinträchtigung | 25 % der Patienten können die numerische Rating-Skala nicht mehr nutzen. | numerische Rating-Skala |
24 bis 18 Punkte: leichte Demenz | 57 % der Patienten können die numerische Rating-Skala nicht mehr nutzen. | numerische Rating-Skala + verbale Rating-Skala |
17 bis 10 Punkte: mittelschwere Demenz | Goldstandard: Selbsteinschätzung vor Fremdeinschätzung ↓↑ | verbale Rating-Skala |
Weniger als 9 Punkte: schwere Demenz | Prüfen ob kognitiver Bedeutungsverlust vorliegt was ein Schmerz ist. ↑↓ | verbale Rating-Skala + BESD (=Fremdeinschätzung) |
Schmerzassessment Schmerzeinschätzung Demenz
Bei der numerischen Rating-Skala (NRS) wird der Patient aufgefordert, seine Schmerzen einer Skala von 0-10 zuzuordnen. Bei kognitiv eingeschränkten Schmerzklienten reichen die üblichen Schmerz-Assessments wie die NRS oft nicht aus, um Schmerzen erfassen und entsprechende Maßnahmen einleiten zu können.
Bei der verbalen Rating-Skala (VRS) beschreibt der Patient seine Schmerzintensität als Ausdruck zwischen „kein, mäßig, mittelstark, stark, unerträglich”.
Die BESD-Skala zur Beurteilung des Schmerzes bei Demenz ist eine deutsche Übersetzung der PAINAD-Scale mit den Beobachtungskategorien Atmung, negative Lautäußerungen, Gesichtsausdruck, Körpersprache und Reaktion auf Tröstung.
Bei der Einschätzung eines schmerzassoziierten Verhaltens konnte sich der BESD gegenüber anderer Fremdeinschätzungen wie zum Beispiel dem BISAD (Beobachtungsinstrument für das Schmerzassessment bei alten Menschen mit Demenz) durchsetzen. Dies liegt vor allem daran, dass im Vergleich anderer Assessments viele evidenzbasierte Ergebnisse vorliegen und sich diese am besten in unser Gesundheitssystem übertragen lassen. Der BESD gilt unter anderen als am besten geeignet, wenn man den Patienten in seinem Verhalten nicht so gut kennt.
Um BISAD anwenden zu können, muss der Betroffene und sein übliches Verhalten gut bekannt sein. Die Pflegeperson muss also einschätzen können, wie der Betroffene sich in den vergangenen Tagen verhalten hat. Das kann insbesondere nach einer Aufnahme ins Krankenhaus schwierig sein. In ambulanten Settings ist der Einbezug von Informationen notwendig, die Angehörige geben können, um BISAD sinnvoll zu nutzen.
Als weitere empfohlene Instrumente zur Fremdeinschätzung bei älteren Menschen mit starken kognitiven Einschränkungen können der ZOPA (Zone möglicher Einigung) oder Doloplus-2 (französisches Instrument zur Schmerzerfassung bei älteren nonverbalen Menschen) aufgezählt werden.
Als weitere empfohlene Instrumente zur Fremdeinschätzung bei älteren Menschen mit starken kognitiven Einschränkungen können der ZOPA oder Doloplus-2 aufgezählt werden.
Selbstauskunft als Goldstandard und mögliche Alternativen
Grundsätzlich hat auch bei Menschen mit Demenz die Selbstauskunft zu Schmerzen Vorrang. Die Schmerzselbsteinschätzung sollte somit immer als Goldstandard angesehen werden und gegenüber allen Fremdeinschätzungen bevorzugt oder und parallel angewandt werden.
Ausgeprägteres Schmerzverhalten bei einer Aktivität im Vergleich zur Ruhesituation weist sehr stark auf einen bewegungsabhängigen Schmerz hin. Achten Sie daher systematisch auf Verhaltensänderungen geachtet, etwa mittels BESD-Einschätzung. Auch herausfordernde Verhaltensweisen können auf Schmerzen hindeuten.
Sollte keine Selbstauskunft mehr möglich sein, gehen Sie folgendermaßen vor:
- Wenn eine üblicherweise schmerzhafte Erkrankung, Verletzung oder ein ebensolcher Eingriff vorliegt, können Sie davon ausgehen, dass der Betroffene Schmerzen hat.
- Beobachten Sie das übliche Verhalten des Bewohners, und achten Sie regelmäßig auf Verhaltensänderungen und prüfen Sie es auf Schmerzverhalten, vor allem auch während Aktivitäten.
- Nicht immer ist Schmerzverhalten erkennbar, oder Schmerzen äußern sich in demenztypischem, herausforderndem Verhalten.
- Wenn Sie Schmerzen vermuten, dann geben Sie versuchsweise ein Schmerzmittel (Initialbehandlung).
Die Schmerzeinschätzung sollten Sie nur als ausgebildete Pflegefachkraft anwenden. Grundsätzlich sollte die pflegerische Diagnostik, zu der die Schmerzeinschätzung gehört, durch Pflegefachpersonen erfolgen. Aber natürlich ist es wichtig, dass alle an der Pflege Beteiligten, also auch Hilfskräfte, Angehörige oder andere, ihre Erkenntnisse in den diagnostischen Prozess einbringen. Daher können vor allem schmerzassoziierte Verhaltenseinschätzungen auch gut zu zweit oder dritt im Austausch beziehungsweise gemeinsam genutzt werden.
Die S3-Leitlinie „Schmerzassessment bei älteren Menschen in der vollstationären Altenhilfe“ (Stand 11. Juli 2017) gibt 62 weitere praxisnahe wie evidenzbasierte Empfehlungen zur Implementation eines zielgruppenspezifischen Schmerzmanagements für die vollstationäre Altenhilfe.
Kernaussagen der Leitlinie
- Bei jedem Bewohner einer stationären Pflegeeinrichtung soll ein Screening auf mögliche Schmerzen durchgeführt werden.
- Bei vorhandenem Schmerz (positives Screening) soll sich ein vertieftes Assessment anschließen, dessen Leitkriterium die Schmerzstärke ist. Außerdem sind der Mobilitätsstatus und die Auswirkungen des Schmerzes auf die Funktion zu überprüfen.
- Eine regelhafte Verlaufserfassung soll durchgeführt werden, um zu prüfen, ob das Schmerzmanagement anzupassen oder weitere Diagnostik erforderlich ist.
- Ist eine Selbstauskunft zu Schmerzen nicht möglich, soll vor allem geprüft werden, ob der Bewohner potenziell schmerzauslösende Erkrankungen hat und ob schmerztypische Verhaltensweisen auftreten.
Schmerzbehandlung als interdisziplinäre Teamaufgabe
Die wichtigste Grundlage für eine erfolgreiche Schmerzbehandlung ist die vertrauensvolle interdisziplinäre Zusammenarbeit. Im Idealfall aus ausgebildeten Schmerzexperten (Pain Nurse, Algesiologische Fachassistenz), Schmerztherapeuten, Fachärzten, Psychologen, Physiotherapeuten, Angehörigen, Bezugspersonen und dem Bewohner selbst, um gemeinsam eine Strategie für mehr Lebensqualität erreichen zu können.
Für eine gute Schmerzeinschätzung braucht es die Gefühlswahrnehmung und Intuition. Dies verlangt Erfahrung, Selbstbewusstsein und die Bereitschaft, mit Teamkollegen im Austausch zu bleiben sowie Zeit für die Reflexion freizuräumen.
Durch Erfahrungswerte Einzelner können subjektive Eindrücke gewonnen werden, die durch Erfahrung zu einer messbaren (Schmerz-)Größe und Parameter werden.
Durch Konsens und Austausch im Team werden unsere subjektiven Sinneswahrnehmungen, Gefühlseindrücke und Erfahrungswerte zu einem Bild zusammengefügt. Fallbesprechungen sind daher ein adäquates Mittel für eine erfolgreiche Schmerzbehandlung. Dazu sollten sich alle Beteiligten darauf verlassen können, dass den Empfehlungen aller gefolgt wird, und gesundheitliche Veränderungen umgehend mitgeteilt werden.