Zu Beginn einer Demenz stellt dies häufig noch kein Problem dar – die Betroffenen können sich noch mitteilen und auch feststellen, wo der Schmerz sitzt. Im Verlauf einer Demenz geht aber nicht nur die Fähigkeit zurück, sich adäquat zu äußern, hinzu kommt auch, dass der Schmerz nicht mehr lokalisiert werden kann. Menschen mit Demenz können also nicht mehr bestimmen, von wo der Schmerz ausgeht beziehungsweise von wo er herkommt. Gelegentlich gibt es die Annahme, Menschen mit Alzheimer-Krankheit würden aufgrund ihrer Demenzform keinen oder lediglich geringeren Schmerz verspüren. Dies ist wissenschaftlich widerlegt – die Schmerzwahrnehmung wird verändert, von einer Verminderung als Automatismus der Alzheimer-Krankheit ist derzeit jedoch nicht auszugehen.
Hinweise auf Schmerzen
Wertvolle Hinweise liefert eine „Schmerzbiographie“ – also das Wissen um Vorerkrankungen und Ereignisse, die Schmerzen bisher verursachten oder bis heute auslösen könnten. Medizinerinnen und Mediziner werden sich zur Beurteilung häufig sogenannter Skalen bedienen, um Schmerz und seine Intensität beurteilen zu können und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Ein Beispiel ist die Numerische Rating Skala, auf der Angaben zur Schmerzintensität von eins bis zehn gemacht werden können. Es gibt weitere dieser Instrumente – aber sie alle sind auf Angaben der oder des Betroffenen angewiesen.
Besondere Beachtung muss der Aspekt finden, dass Schmerz von älteren Menschen häufig in anderer Form wiedergegeben wird. Es wird eher über Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit, Ruhelosigkeit oder Schwindel geklagt – was die Diagnose nicht eben vereinfacht. Auch Ruhelosigkeit oder Abwehrverhalten bei pflegerischen Maßnahmen können ein Hinweis auf Schmerzen sein. Angehörige sind besonders aufgerufen, Veränderungen im Verhalten zu beobachten und der Ärztin oder dem Arzt mitzuteilen, wie sich die oder der Betroffene verhält. Dies kann entscheidende Hinweise liefern (Fremdanamnese), ob möglicherweise Schmerzen vorhanden sind.
Schmerz kann sich in verändertem Verhalten ausdrücken
Es kommt bei Menschen mit Demenz also besonders darauf an, bei herausforderndem Verhalten oder bei Verhaltensänderungen auch an Schmerzen als Ursache zu denken. Eine Ärztin oder ein Arzt wird dann versuchen, zwischen akuten und chronischen Schmerzen zu unterscheiden und die Behandlung entsprechend anpassen. Vielfach gehen dann auch die als besonders belastend empfundenen Verhaltensweisen (Schreien, Rufen, Unruhe, Aggression) zurück.
Wenn die oder der Betroffene nicht mehr sprechen kann, ist es wichtig, auf andere Ausdrucksweisen, zum Beispiel die Mimik, zu achten. Damit soll verhindert werden, dass Schmerzen chronisch werden und der Mensch dauerhaft darunter leidet. Teilen Sie deshalb der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt mit, falls Sie den Eindruck gewinnen, ihre Angehörige oder ihr Angehöriger leidet unter Schmerzen.
Was tun?
- die betroffene Person kontinuierlich beobachten, auch eine Hautinspektion durchführen (nach Wunden oder Druckstellen suchen)
- auf Entzündungen im Mundbereich achten, Zähne und Sitz von Zahnersatz prüfen (Wann war der letzte Zahnarztbesuch? Sie sollten diesen mindestens einmal jährlich aufsuchen.)
- auf veränderte Mimik achten
- Veränderungen im Verhalten wahrnehmen
- Erstellung einer „Schmerzbiographie“ – Darstellung von Vorerkrankungen und Ereignissen, die bisher Schmerzen verursachten. Ein wichtiger Hinweis für weiteres Handeln für Angehörige, Pflege und Ärztinnen und Ärzte.
- Haben Sie den Verdacht, dass Schmerzen vorliegen und stellen Sie im Verhalten Veränderungen fest, welche Sie sich nicht erklären können, kontaktieren Sie Ihre Hausärztin beziehungsweise Ihren Hausarzt, Ihre Fachärztin beziehungsweise Ihren Facharzt oder Ihre Zahnärztin beziehungsweise Ihren Zahnarzt.
Ein Beispiel aus der Praxis
Hildegard T. ist 84. Die Diagnose „Alzheimer“ bekam sie vor etwa vier Jahren. Sie spricht nicht mehr und die verbale Kommunikation beschränkt sich auf Lautäußerungen. Hildegard T. war immer das, was man eine „gute Esserin“ nennen kann. Mit großem Genuss widmete sie sich ihren Mahlzeiten. Die pflegende Tochter bemerkte daher sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihre Mutter brauchte in den vergangenen Tagen deutlich länger für das Essen. Nun war es so weit, dass – ganz im Gegensatz zu sonstigen Gewohnheiten – Hildegard T. nicht mehr essen wollte. In Sorge um ihre Mutter und die Veränderung zunächst der Demenz zuschreibend, begann die pflegende Tochter, ihrer Mutter das Essen anzureichen. Das klappte mehr schlecht als recht, und mehr und mehr arteten die Mahlzeiten in eine Art Kampf aus. Die Tochter wusste sich schließlich keinen Rat mehr und informierte den Hausarzt, der in ein geriatrisches Krankenhaus überwies. Dort versuchte man unter anderem auch, den Mund zu inspizieren. Hildegard T. weigerte sich aber beharrlich, diesen zu öffnen. Der Stationsarzt fragte die Tochter, wann Hildegard T. das letzte Mal einen Zahnarztbesuch hatte. Dies lag einige Jahre zurück – irgendwann vor drei oder vier Jahren hatte ihre Mutter eine Zahnprothese bekommen. Seitdem war kein Besuch bei der Zahnärztin mehr erfolgt. Der Stationsarzt riet daher dringend, nach Entlassung die Zahnärztin aufzusuchen.
Der Besuch in der Zahnarztpraxis verlief dann wider Erwarten recht unkompliziert. Die Situation auf dem Zahnarztsessel setzte Hildegard T. das richtige Signal, so dass sie – wenn auch widerwillig – den Mund öffnete. Für die Zahnärztin war es dann ein leichtes festzustellen, dass die Zahnprothese dringend angepasst werden musste. So wie sie jetzt saß, musste Frau T. beim Kauen Schmerzen gehabt haben. Der Versuch, die Zahnprothese anzupassen schlug fehl. Hildegard T. konnte weder ausreichend lange kooperieren noch wiedergeben, ob der Sitz der Prothese im Anschluss korrekt war. Gemeinsam mit der Zahnärztin kam die pflegende Tochter daher überein, auf das Einsetzen der Prothese oder gar das Anfertigen einer neuen zu verzichten. Hildegard T. gewöhnte sich schnell an die Situation und ihre Tochter achtete darauf, die Mahlzeiten etwas anzupassen hinsichtlich deren Konsistenz. Alsbald gewann Hildegard T. den Genuss am Essen zurück.
Wenn sich das Verhalten des Menschen mit Demenz ändert, kann dies auch ein Ausdruck von Schmerzen sein. Pflegende Angehörige sind daher die wichtigsten Beobachter und Kenner, welche die entscheidenden Hinweise liefern können.