Augenfällig sind in erster Linie die Defizite von Menschen mit Demenz. Sie können nicht mehr... sie wissen nicht mehr... sie finden nicht mehr... und so weiter
Kognitive Fähigkeiten lassen nach und verschwinden, dementsprechende Therapieansätze wirken kurzfristig bis gar nicht mehr.
Was hilft?
Ich möchte dazu einladen, das Thema Demenz von einer anderen Seite aus zu betrachten, sich von der defizitären Sichtweise zu verabschieden und den Blick hin zu den Ressourcen der Persönlichkeiten zu wenden.
Ich sehe einen Herrn vor mir sitzen, mit dem ich in einer stationären Einrichtung arbeite. Vor sich eine Flasche Wasser und eine weiße Tasse. Er trinkt aus der Tasse einen Schluck Wasser, schenkt aus der Flasche nach und trinkt wieder. Er ist ganz versunken in dieses Geschehen, von außen wahrnehmbar ist diese Versunkenheit, eine fast meditative Hinwendung zum Hier und Jetzt. Es zählt nur das Geschehen des Augenblicks.
Damit wäre bereits die erste große Ressource benannt: Leben im Hier und Jetzt. Ist das nicht ein großes Thema unserer Gesellschaft? Wie viele Yoga-, Meditations- und sonstige Angebote gibt es mit genau diesem Ziel? Angebote, die dem Menschen ohne Demenz helfen sollen, zu entschleunigen, im Hier und Jetzt anzukommen, ungesunde Lebensformen, die zum Burn-out führen können, zu vermeiden. Ein Mensch mit Demenz hat gelernt, wenn auch dadurch, dass er die andere Welt vergessen hat. Aber obiges Beispiel zeigt: er ist angekommen im Hier und Jetzt.
Was könnte man von ihm lernen? Jede gestresste Pflegekraft oder eine aus ihrem schnellen Alltag kommende Besucherin könnte sich einen Moment Zeit nehmen, innehalten, diese Versunkenheit in eine einfache Tätigkeit beobachten (ohne zu kommentieren) und sich inspirieren lassen. Inspirieren und motivieren zu einem kleinen Moment der Entspannung in einer schnellen, hektischen Welt.
Auch die zweite große Ressource, aus der jede/r Nicht – Demente viel lernen kann, sei an einem Beispiel erläutert. Das Thema lautet: endlich lebe ich mich selbst.
Eine Dame, Kinderpflegerin von Beruf, übte diesen mit Leib und Seele aus. Bis zur Heirat, dann übernahm sie die Buchhaltung in der Firma ihres Mannes. Die in der Nachkriegsgeneration übliche Mischung aus Liebe und Pflichtgefühl. Aber war es ihr Beruf? Ihr Leben? Eher nicht. Durch die Demenz konnte sie dieses Leben hinter sich lassen. Buchhaltung und Ehemann sind vergessen. Mit einer Reihe Puppen, die zu ihren Kindern geworden sind, lebt sie das Leben, das sie einst aufgegeben hatte. Die Kinder werden versorgt, gefüttert, getragen, alles wie in einer echten Kinderbetreuungssituation. Hier geht die eigene, persönliche Biografie weiter. Auch dieses Beispiel lädt zum Innehalten ein. Und dazu, sich selbst die Frage zu stellen: Lebe ich mein Leben? Habe ich den Beruf, der mich erfüllt?
Mit diesem Blickwinkel wird der Mensch mit Demenz zum Lehrmeister einer Welt, die höher, schneller, weiter hinaus will. Zum Lehrmeister für Entschleunigung und Innehalten.