Ingrid ging mit schlechtem Gewissen einkaufen, sie wirkte gehetzt und nervös. Eine Nachbarin sprach sie im Laden an, fragte, wie es ihr geht und ihrem Mann Karl, der an Demenz erkrankt war. Ingrid erzählte ihr, dass sie unter Zeitdruck stehe, schnell einkaufen und wieder nach Hause müsse. Die Nachbarin sah sie fragend an. Ingrid erklärte: „Wenn ich das Haus verlasse, schließe ich die Tür ab, damit Karl nicht wegläuft.“
Aus Angst, dass ihm während ihrer Abwesenheit etwas passiert, beeilte sie sich jedes Mal, was dazu führte, dass sie gestresst war und immer etwas beim Einkaufen vergaß. Am Schlimmsten aber war ihr schlechtes Gewissen gegenüber ihrem Mann. Ihn so einschließen zu müssen, nagte an ihr. Aber sie hatte auch Angst, dass er sonst das Haus verlassen und ihm etwas passieren würde. Die Nachbarin reagierte auch dementsprechend und sagte: „Aber Sie können doch Ihren Mann nicht zu Hause einschließen. Stellen Sie sich mal vor, es brennt, da kommt er doch nicht lebend raus. Und ist das nicht auch strafbar?“ Ja, diese Angst begleitete Ingrid stetig, wenn sie ohne ihren Mann das Haus verließ.
Ingrid ließ der Vorwurf keine Ruhe. Sie recherchierte abends, ob sie sich strafbar machen würde, wenn sie die Haustür abschließt. Gab es nicht die Möglichkeit, eine Genehmigung bei Gericht einzuholen? In den Pflegeheimen wurde dies doch oft gemacht.
Doch Ingrid fand heraus, dass es keine Vorschriften gibt, die es den Gerichten so ohne Weiteres erlaubten, bei Menschen mit Demenz freiheitsentziehende Maßnahmen in der häuslichen Pflege zu genehmigen. Ingrid erschrak. Machte sie sich tatsächlich wegen Freiheitsentzuges strafbar, wenn sie Karl während ihrer Abwesenheit zu Hause einschloss? Er hatte keinen Schlüssel für die Haustür, konnte allenfalls durchs Fenster aus dem Haus, falls es brennen sollte. Aber er war auch nicht mehr so fit, aus dem Fenster zu steigen.
Eine freiheitsentziehende Maßnahme im häuslichen Bereich würde nur dann von einem Betreuungsgericht genehmigt werden können, wenn die Situation zu Hause mit der in einer Einrichtung vergleichbar sei. Dies bedeutet, dass der Tagesrhythmus der Menschen mit Demenz von professionellen Pflegepersonen strukturiert und vorgegeben werde und keine Angehörigen in der Wohnung lebten. Ingrid sah, dass diese Situation hier nicht zutraf, sie wohnte mit ihrem Mann zusammen. Sie las, dass freiheitsentziehende Maßnahmen zu Hause dann legal sein können, wenn ihr Mann darin einwilligte. Doch gerade das würde er nicht tun. Er schimpfte immer, wenn sie ging und die Tür abschloss. Er erkannte die Gefahren nicht, in die er geraten würde, wenn er allein das Haus verließ. Zu oft hatte Ingrid ihren Mann schon suchen müssen, bislang war ihm nichts Schlimmes passiert. Aber er war schon einmal im Wald gestürzt und erst nach Stunden unterkühlt gefunden worden.
Ingrid las weiter. Sie stieß auf eine Stelle, wonach freiheitsentziehende Maßnahmen zu Hause dann gerechtfertigt seien, wenn ohne die abgeschlossene Haustür eine konkret und unmittelbar bestehende Gefahr für Karls Leben oder seine Gesundheit entstehen würde. Ja, Karl könnte sich verletzen. Aber sie las weiter, dass diese Gefahr nicht anders abwendbar sein dürfe. Ingrid überlegte. Die Gefahr bestand ja nur, wenn Karl allein das Haus verließ. Sie würde deshalb dafür sorgen müssen, dass er künftig während ihrer Abwesenheit auf seinen Spaziergängen betreut würde.